[ Copyright (c) 1992 by HG Joepgen und Südwestfunk Baden-Baden. ]
(Der unentgeltlichen Verbreitung dieses Werkes durch nichtkommerziell
betriebene Mailboxen per Aussendung hat der Urheber zugestimmt)
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Die Netze der "Mail-Boxer"
Computer-Kommunikation rund um die Welt
Eine Sendung von Hans-Georg Joepgen
Erstausstrahlung:
26.11.92, 19:30 bis 19:59 Uhr
SWF 1 - Senderkette Süd
Allnächtlich um Null Uhr 5 erwacht in einer kleinen Wohnung
an der Stuttgarter Hechtstraße ein Mikrocomputer-System zum
Leben. Leseköpfe zucken über rotierende Festplatten, der Com-
puter schaltet in das Telefon-Netz durch und ruft mit hohen
Summtönen nach einem anderen Rechner, bis Antwort kommt.
Telekommunikations-Geräusche, im Rauschen abblenden
Was wie das Fauchen eines Schweißbrenners klingt, sind Daten:
Texte, Programme, Bilder, oder auch digital abgebildete Mu-
sikstücke und Filmszenen. Der Rechner in der Hechtstraße
überträgt sie nach Asperg. Von dort aus werden sie kurze Zeit
darauf, wieder über Telefon, nach Berlin geschickt; ein Teil
geht nach Amerika, Australien, Afrika und Asien weiter. Auf
dem gleichen Wege kommen neue Daten in die Hechtstraße zurück
und werden hier auf Festplatten abgespeichert.
Gebaut hat das Stuttgarter Rechnersystem der dreißigjährige
Elektriker Bruno Walz. Sein Steckenpferd: Er ist ein "Mailbo-
xer", jemand, dem es Freude macht, für sich und andere Daten
zu sammeln, zu verwalten und weiterzuleiten.
Mailbox, Englisch "Postfach": Das ist ein Fachausdruck für
Rechnersysteme, bei denen Computerbesitzer ihre Maschinen an-
rufen lassen können, um Daten abzuliefern oder abzuholen. Die
Mailboxer selbst nennen sich gern "Sysop", "System Operator",
"System-Bediener".
Brunos Mailbox heißt nach einem berühmten Großrechner Cray-II.
Sie ist Teil eines weltumspannenden Systems aus vielen tausend
Rechnern, des "Fido-Netzes". Begonnen hatte alles mit einem
Besuch bei einem anderen Sysop:
Das hat mich dann so begeistert, daß ich dann gesagt hab,
ha, das machst doch selber, machst ne eigene Mailbox auf,
und so hat's eben angefangen.
Rund 150 Computerfreunde aus dem Raum Stuttgart sind einge-
tragene Nutzer der Mailbox Cray-II. Ihre Rechner rufen regel-
mäßig in dieser Mailbox an, manche von ihnen sogar mehrfach
täglich.
Die Festplatten sind 1 200 Megabyte groß, von denen 80
Prozent bereits voll sind. Der größte Teil davon sind
Programme. Nur ein geringer Teil davon sind die eigentli-
chen Nachrichten, die wir hier austauschen, 20, 30 Mega-
byte.
Ein Megabyte entspricht einem Roman mittlerer Dicke - es hat
sich also was angesammelt in der Hechtstraße.
Das weltumspannende Fido-Netz ist nur eines von mehreren Com-
puternetzwerken, die Baden-Württemberg überziehen, es gibt
hierzulande unterdessen Dutzende weiterer "Nets". Bei jünge-
ren Fans besonders beliebt: das von Schülern gegründete
"Mausnetz" aus Mailboxen, die allesamt den Namen "Maus" tra-
gen.
Sysop der "Maus Karlsruhe" ist der Student Wolfgang Walter.
Er pflegt in seiner Mailbox besonders die sogenannten
"Foren", auch "Echos" oder "Bretter" genannt. Das sind elek-
tronische Diskussionsrunden, Sammlungen von Fernschreiben,
die jedermann abrufen und durch Beiträge aus dem eigenen Com-
puter ergänzen darf. Besonders beliebt: Computerthemen, sagt
Walter.
Und was noch interessant ist, das ist die Gruppe Net-Ga-
mes. Wir spielen da mausenet-weit unter anderem Golf. So-
zusagen ein total lustiges Verfahren. Es werden so Bahnen
ausgewürfelt, man muß sich Schläger zusammenstellen und
so. Das zieht sich dann über drei, vier Wochen hin. Oder
die Gruppe Politik, wo halt wirklich aktuelle politische
Diskussionen laufen, oder ne Umweltgruppe gibts auch, wo
schon ab und zu Greenpeace-Infos drin waren. Dann gibts
noch die obligatorischen Such - und Video-Bretter, wo
nicht nur Computer angeboten werden, sondern manchmal so-
gar ganze Autos. Und halt die Laber-Ecke, wo wirklich
über alles geredet werden kann; es ist alles sonst so in
200 Gruppen strukturiert, aber wenn einer mal wirklich
was Ungewöhnliches hat - Witze gibt's auch noch. Oder die
Oberlehrer: Da streiten sich wirklich die Profis in Sachen
Rechtschreibung, wie man jetzt was und wie trennt und
so. Und da steht der Duden eigentlich neben dem Computer.
Manche Mailboxen und Netze haben sich spezialisiert, sie wol-
len nicht nur die Freude am Umgang mit hochkarätiger Technik
und ein neuartiges Kommunikationsmedium pflegen, sondern nah-
men sich mehr vor: Wie Bruno Walz mit seiner Cray II, der ne-
ben dem Standard-Angebot zusätzlich den aktuellen Inhalt von
Umwelt-Zeitschriften auswertet und bereithält.
Ich wollte meine Mailbox nicht nur dazu benutzen, um Pro-
gramme hin und her zu schieben, sondern um auch aktiv in
einem bestimmten Gebiet beizutragen. Und gerade der Um-
weltbereich ist ja heute aktuell. Und deshalb habe ich
mich dazu entschlossen, täglich immer neue Beiträge zu
bringen in dem Bereich.
Seelsorge und Missionsarbeit durch ein Computernetz - auch
das gibt es inzwischen in Baden-Württemberg. Sysop Schorsch
Grittmann, Sinsheim:
Es gibt in Deutschland ja viele Mailboxen, und unter an-
derem auch ein paar christliche Mailboxen. Wir haben also
zum Inhalt, daß wir das Evangelium rüberbringen wollen zu
den Computerbesitzern. Und da haben wir uns zusammenge-
schlossen als Verbund Christlicher Mailboxen. Es sind al-
so ein paar Boxen, die werden von katholischen Leuten be-
treut. Dann gibts Freikirchen und [die] evangelische Kir-
che. Also alles vertreten.
Das Livenet des Verbundes Christlicher Mailboxen ist in Ba-
den-Württemberg mit Systemen in Pliezhausen, Weinstadt,
Schorndorf, Mannheim, Freiburg, Aalen und Sinsheim vertreten;
sie führen Namen wie "Credo", "Ichthys", "Millenium" und "Le-
bensinterface" - die Bibel im Computer?
Es bietet nicht jeder die ganze Bibel an, weil das ein
Mordsdatenumfang ist. Aber so - Neues Testament ist bei
den meisten drin. Und es sind auch Andachten drin. Und
natürlich auch viel anderes, andere Themen. Nicht nur
theologische Themen, auch alles andere. Aber natürlich
wollen wir schon speziell die theologische Seite anspre-
chen: wie die Leute mit Jesus Christus in Verbindung kom-
men können.
Neben dem Aufbauen eines eigenen Netzes gibt es für die Ange-
hörigen besonderer Interessenrichtungen noch die Möglichkeit,
Foren in bestehenden Netzen zu betreiben. Davon Gebrauch ge-
macht haben etwa die Nutzer eines Forums, in dem die Interes-
sen und Lieblingsthemen homosexueller Frauen und Männer ge-
pflegt werden. Gestreßte Eltern tauschen Erfahrungen in einem
anderen Forum "Kinder", es gibt Wohnungstauschzentralen, Mit-
fahrer-Vermittlungen, Flohmärkte und ein Forum für Literatur,
in dem sich neben dem Text bereits erschienener Bücher auch
Werke anderswo noch nicht veröffentlichter Autoren finden.
Weniger gefragt: ein Feministen-Echo. Kräftig frequentiert
dagegen die in vielen Mailboxen angebotenen Porno-Stories und
Erotik-Bilder; besonders beliebt sind Animationen, Dateien,
die man durch ein Abspielprogramm als Spielfilm-Szenen mit
eindeutigem Inhalt auf dem Rechnerschirm ablaufen lassen
kann. Viele Mailboxen haben die Porno-Bereiche durch einen
zusätzlichen Passwort-Schutz abgesichert. Ein Porno-Passwort
bekommt nur, wer nachweist, daß er mindestens 18 ist und wer
schriftlich versichert, daß er derlei Spezialitäten nicht an
Kinder gelangen läßt.
Auch Klatsch und Tratsch findet sich in den Foren, entweder
in den nationalen Netzteilen in der jeweiligen Landessprache
oder international auf englisch.
Hier ist in aller Stille ein neues Kommunikationsmedium mit
unverwechselbaren Qualitäten entstanden, sagt der Elektronik-
Fachpublizist Reinhard Gössler:
Mailboxes, die rund um die Welt über Modem und Telefonleitung
Kontakt aufnehmen - wenn man da mal reinhört, da kriegt man
also ganz interessante "Gespräche", in Anführungszeichen,
mit: Welche Probleme da gewälzt werden und was abgewickelt
wird mit welchen Verbindungen international. Das ist eigent-
lich auch das Schöne an so nem Hobby, das man so Verbindungen
bekommt nicht nur als Funkamateur, sondern auch als Computer-
Hobbyist zuhause. Verbindungen, die man sonst niemals knüpfen
könnte.
Was halten Profis, berufliche Nutzer kommerzieller Datenban-
ken, von den Netzen der privaten Mailboxer? Wir haben Stefan
Wicht, den Leiter des Referats Recherchen beim Südwestfunk
Baden-Baden, über den Stuttgarter Radio-Redaktionscomputer
einen langen Blick in die Welt der Sysops tun lassen und ihn
dann um sein Fazit gebeten:
Kurz gesagt, ich war angenehm überrascht über das breite
Spektrum an Informationen, das man abfragen kann. Wobei
insbesondere die Möglichkeit, auf Zeitschriften im Voll-
text zuzugreifen, mir gut gefallen hat. Denn das ist eine
Sache, die immer von Interesse ist für Dokumentare oder
für Informationsvermittler oder überhaupt für Interes-
sierte an bestimmten Themen. Und zum Beispiel an diese
Zeitschrift von Greenpeace, über die kommt man sonst ohne
Weiteres nicht ran über eine Datenbank.
Allerdings, nicht alle Hobby-Mailboxen boten immer ausreich-
ende Betriebssicherheit und genügend Kapazität.
Mehrere Versuche, bei Anbietern sich anzumelden, sind
doch mehr oder weniger gescheitert. Oder, wenn man sich
angemeldet hat, ist man nicht weit gekommen. Woran das im
Einzelnen liegt, vermag ich jetzt nicht abschließend zu
beurteilen. Ob's der Rechner war, ob's die hohe Belastung
war? Aber zu richtigen Ergebnissen bin ich jetzt beim
zweiten Anlauf nicht mehr gekommen.
Wir haben eine Reihe weiterer Versuche unternommen, um die
Netze der privaten Mailboxer kennenzulernen. Test 1: Über den
Stuttgarter Radio-Redaktionscomputer legten wir in der Ess-
linger Mailbox DMS die Bitte ab, uns bei einem technischen
Computer-Spezialproblem zu beraten. Ein paar Tage darauf lag
eine Antwort in der Mailbox, auf unserem Bildschirm erschie-
nen nützliche Hinweise, zusammengestellt von einem hilfsbe-
reiten und uns unbekannten Computerspezialisten namens Martin
Steinherr.
Versuch 2: Über die Cray-II baten wir in einer Art Computer-
Rundfrage solche Netzteilnehmer um Antwort, die schon einmal
eine für sie folgenreiche Nachricht aus einer Mailbox bezogen
hatten. Unter den Antworten: Ingeborg S. meldete, sie
sei gerade von einer Schottland-Reise zurückgekommen, vermit-
telt über ein Mitfahrer-Forum; der Student Chris Hendricks
berichtete, über das Netz eine schöne Nebenbeschäftigung ge-
funden zu haben. Axel Haag hat wichtige technische Nachrich-
ten über ein Netz bekommen. Johannes Güntert berichtete von
einem Bekannten, der über Netz eine Freundin fand. Detlev Kö-
ster vom Roten Kreuz Dortmund schilderte eine Hilfsaktion
während des Moskauer Putsches, die über die Mailbox Post
Square in Kiew als Zwischenstation lief. Schließlich meldete
Howard Fuhs, er habe über ein Netz vom Tode eines Freundes
erfahren, der bei einem Wirbelsturm in Florida ums Leben kam.
Dritter Versuch: Über die Cray-II und das Fido-Netz brachten
wir eine Test-Botschaft für einige ausgewählte Regionen im
Ausland auf den Weg, in der wir baten, das jeweilige Eintref-
fen unseres Textes mitzuteilen. Bereits sieben Stunden später
schickte ein Computer in Texas seine Antwort zurück, einen
Tag darauf meldete sich der New Yorker Rundfunksender WWCR
über das Netz und wünschte mit kollegialen Grüßen gutes Ge-
lingen für den Test. Weitere Quittungen trafen aus Sankt Pe-
tersburg, Holland und Afrika an.
Vier Tage darauf tauchte die Testnachricht wieder in Europa
auf, aufgefangen durch die Mailbox von Cor Slot in Rotterdam;
unsere Computerbotschaft hatte über Amerika und Asien die
Welt umrundet, weitergereicht von Mailbox zu Mailbox. Alles
in allem: Ein überzeugendes Beispiel für die Leistungsfähig-
keit solcher Netze.
Schnell an neue Programme und interessante Daten aus aller
Welt kommen zu können - das macht nur einem Teil der Faszina-
tion aus, mit der Computernetze und Mailboxen immer mehr
Zeitgenossen in ihren Bann schlagen. Mindestens genau so
wichtig ist für viele Boxnutzer die Möglichkeit, sich vor
einem breiten Publikum äußern zu können, auf diese Äußerung
Antwort zu bekommen, beachtet zu werden.
Tastenfeld und Schirm stillen, exzessiv als Kommunikations-
mittel gebraucht, das Bedürfnis nach dem unmittelbaren Ge-
spräch mit einem menschlichen Gegenüber. Computer-Kommunika-
tion kann in eine merkwürdige Art von Einsamkeit führen. Wer
Partner aus aller Welt per Knopfdruck auf dem Schirm holen
kann, für den sind physisch anwesende Kommunikationspartner
nicht mehr so wichtig. Diese Gefahr haben die jungen Organi-
satoren des Mausnetzes erkannt und tun was dagegen - Wolf-
gang Walter, Maus Karlsruhe:
Jede Maus macht ihre regelmäßigen Stammtische, meist ein-
mal im Monat. Weil - das fördert halt die Kommunikation
untereinander ganz besonders. Vor allem erkennt man, daß
es nicht irgendwelche fremden Leute oder gar Computer
sind, mit denen man redet, sondern daß eigentlich der
Computer nur Kommunikationsmittel ist. Wie halt ähnlich
ein Telefon.
Die Analogie Computer-Telefon trifft die Realität nur vorder-
gründig, die neue Kommunikationsform birgt Gefahren und Chan-
cen, wie sie so bisher noch niemals zur Verfügung standen.
Beim Telefonieren erreiche ich ja höchstens nur einen mit
der Nachfrage, wenn ich ein konkretes Problem habe. Da
ist natürlich die Lösungsmöglichkeit ne ganz andere, wenn
am nächsten Tag da tausend Leute von erfahren können in
ganz Deutschland und vielleicht einer den zündenden Ge-
danken hat, wie ich damit jetzt fertigwerde, anstatt wenn
ich da irgendwie durchtelefonieren müßte oder so. Außer-
dem: Wen soll ich denn anrufen? Ich mein', ich kenn' zwar
meine zwanzig oder dreißig Freunde, die eventuell da auch
kundig wären oder so, aber meist handelt es sich um so
spezielle Sachen, daß man lieber ne größere Masse anspre-
chen will. Und das ist halt so die billigste Möglichkeit.
Es ist nicht alles Gold, was glänzt, auch nicht bei den Mail-
boxen: Bisweilen gibt es Streit in den Netzen, entwickeln
sich aus kontroversen Sach-Diskussionen handfeste persönliche
Auseinandersetzungen, setzt es sogar Beleidigungen. Zum Krach
kommt es leicht, wenn Netz-Nutzer anderen Teilnehmern vor-
schreiben wollen, was sie zu tun und was sie zu unterlassen
haben. Im Fido-Netz wurde unlängst der Deutschland-Chefkoor-
dinator abgewählt, weil seine Organisationspolitik der Mehr-
heit nicht mehr schmeckte.
Klaus Pilger, Sysop der Stuttgarter Mailbox Allstar und Pres-
sesprecher einer "Interessengemeinschaft deutscher Computer-
clubs", spricht es klar aus: Auch aufgeblasene Vereinsmeierei
in den Netzen kann den Spaß an der Computer-Kommunikation
vergällen:
Vor allem dadurch, daß eben manche ihre Posten mehr oder
weniger egoistisch ausnützen, indem sie sich Befugnisse
mit der Zeit anmaßen, die ihnen im Prinzip als Sysop
nicht zustehen. Und es sind unter anderem zum Beispiel
auch Forderungen da, die eben sagen, so mehr oder weni-
ger, Führerschein für Sysops. Was in meinen Augen sehr
nahe an eine Kontrolle herangeht. So nach dem Motto, den
lassen wir zu, den lassen wir nicht zu. Und das verglei-
che ich immer ganz gerne auch innerhalb der Szene mit
einer Vorentscheidung 'wie schaffe ich mir einen bequemen
Sysop im Netz'.
Viele Netze sind, wie das Fido-Net, hierarchisch struktu-
riert: Ein Welt-Koordinator, unter ihm Koordinatoren für die
Kontinente, darunter die Länderkoordinatoren und die regiona-
len Netze. Das Maus-Net dagegen hat eine zellulare Struktur,
unabhängige Einheiten arbeiten zusammen, ohne daß es eine
Ober-Maus gäbe.
Wir sind total basisdemokratisch. Es läuft alles unter
den Sysops über Abstimmungen. Und wenn es die Benutzer
betrifft, machen wir halt Benutzerabstimmungen, wo jeder
eine Stimme hat, der das lesen kann. Es ist weder ein
Verein angemeldet, noch ist es gewerblich. Wir versuchen
ja durch die Benutzerbeiträge nur unsere Unkostendeckung,
die immensen Telefonkosten, reinzubekommen. Und ansonsten
ist da nichts organisiert.
Hierarchie oder Anarchie - was ist die bessere Lösung für
Computernetze? Eine Frage, die in diesen Tagen viele Mailbo-
xer in Baden-Württemberg umtreibt. Klaus Pilger:
Da im Fido-Netz für Deutschland neue Wahlen anstehen für
einen Region Coordinator, das ist also die oberste In-
stanz in Deutschland selber, sind sich einige über die
Demokratisierung in diesem Netz nicht ganz einig. Und da
gehen auch leider immer wieder entsprechend betrübliche
Mitteilungen rüber. Es fängt an mit dem eher noch harmlo-
sen Vorwurf der Inkompetenz und hört auf damit, daß man-
che belegt werden mit solchen Komplimenten wie der 'Füh-
rer' aus - und dann eben der Ortsname dazu.
Nicht immer ist der Ton in den Netzen besonders vornehm. Die
Vorliebe für eine direkte, unverblümte Sprache, die viele
Netzteilnehmer auszeichnet, schlägt gelegentlich in ein
kraftmeierndes Brutalo-Idiom um, wie man es ähnlich von pu-
bertierenden Jugendlichen oder manchen Hobbyfunker-Wellen her
kennt. Aber das sind Ausnahmen, betont der Karlsruher Maus-
Sysop.
Da gibt's halt mal welche, die rüpeln da durch oder so,
aber die werden dann freundlich darauf hingewiesen, daß
das nicht unbedingt erwünscht ist. Und ich glaube doch,
daß überwiegend ein recht freundlicher Umgangston
herrscht. Und wer da meint, laufend über die Stränge
schlagen zu müssen oder so, da muß man sich halt dann
distanzieren.
Jedermann kann von einer Stunde auf die andere Mailbox-Benut-
zer werden oder sogar selbst eine Mailbox aufmachen. Eine be-
hördliche Meldepflicht oder eine besondere Zulassung durch
die Post wie früher gibt es heute nicht mehr. Als Ausrüstung
reichen aus ein mit Festplatte und entsprechenden Programmen
ausgerüsteter Computer, eine Telefonleitung und ein Verbin-
dungsgerät zwischen Rechner und Leitung, ein sogenanntes "Mo-
dem". Weil das so vergleichsweise einfach ist, steigt die
Zahl der Mailbox-Nutzer und der Mailboxer ständig. Allein in
Baden-Württemberg hängen heute bereits über 10 000 Privat-
Computer am Draht. Tausende von Programmen, Dateien und Bot-
schaften fließen tagtäglich zwischen diesen Systemen und den
Netzteilnehmern im Ausland hin und her. All dies vollzieht
sich noch weitgehend unbeobachtet durch die Massenmedien. In
das Blickfeld der Öffentlichkeit geraten die Mailboxen allen-
falls dann, wenn Sysops in Verdacht geraten, gegen Gesetze zu
verstoßen, wie vor wenigen Tagen in Nordbaden, als die Kripo
einen Mailboxrechner besuchte - Holger Ohm, Polizeipräsidium
Mannheim:
Nach Ermittlungen, die über die Staatsanwaltschaft und
das Amtsgericht Mannheim liefen, wurde das Betrugsdezer-
nat des Polizeipräsidiums Mannheim beauftragt, bei einem
vierundzwanzig Jahre alten Mann aus dem Stadtteil Wall-
stadt eine Wohnungsdurchsuchung durchzuführen. Hinter-
grund war der Verdacht, der Mann habe für 1,4 Millionen
Mark Software über eine Mailbox illegal vertrieben. Die
Durchsuchungen der Kriminalbeamten förderten 77 Disketten
hervor, die an das Landeskriminalamt zur weiteren Auswer-
tung gesandt wurden. Die beschlagnahmten Disketten sollen
möglicherweise diese Software enthalten.
Einen von vielen Mailbox-Nutzern und Netzbetreibern als är-
gerlich empfundenen Rest an staatlicher Restriktion gibt es
noch immer: Es dürfen nur von den Fernmeldebehörden zugelas-
sene Modems mit dem Post-Telefonnetz verbunden werden. Zuge-
lassene Modems aber sind teurer als "schwarze Modems" aus dem
Ausland ohne Zulassungszeichen. Klaus Pilger:
Wir sind da generell der Meinung, daß also die Telekom
ihre Bestimmungen da durchaus im Laufe der Zeit auch er-
heblich lockern könnte. Zudem bei ettlichen namhaften
Herstellern von sogenannten Schwarzen Modems eigentlich
inzwischen gewährleistet ist, daß Fehler, wie sie von der
Post, oder von der Telekom, oder von ihren Vertretern
aufgeführt werden, eben nicht mehr vorkommen. Das heißt
also, wir können mehr oder weniger davon ausgehen, daß
die Fehlerquote bei ettlichen hunderttausend illegal be-
triebenen Modems so gering ist, daß da also eine techni-
sche Störung nicht mehr so, wie von der Post aufgeführt,
in Betracht kommt.
Doch das Bundesamt für Post und Telekommunikation in Mainz
bleibt dabei: Schwarze Modems dürfen keinesfalls ans Netz.
Pressesprecher Werner Hugentobler:
Modems müssen wie alle anderen Endeinrichtungen eine Zu-
lassung haben. Und das hat auch seinen guten Grund, weil
eben nicht auszuschließen ist, daß bei nicht zugelassenen
Modems eine negative Auswirkung auf das Netz erfolgt, und
das haben wir zu schützen.
Viele Computer-Zubehörhändler bieten schwarze Modems an und
machen gute Geschäfte mit schlecht informierten Kunden. Zwar
steht in den betreffenden Anzeigen zumeist irgendwo ein
kleingedruckter Vermerk, der Betrieb solcher Modems in
Deutschland sei strafbar, aber das sei nur eine Formsache,
sagen manche Händler, in Wahrheit drohe keine Gefahr. Doch
das stimmt nicht. Wer mit einem schwarzen Modem erwischt
wird, hat in jedem Fall das Nachsehen. Werner Hugentobler:
Wenn wir ein nicht genehmigtes Modem oder eine nicht ge-
nehmigte Endeinrichtung feststellen, das kann also im Zu-
sammenhang mit einer Störung geschehen oder auch auf an-
dere Weise, dann werden wir denjenigen auffordern, das
Gerät uns auszuhändigen. Das ist mal die erste Bedingung.
Würde er sich dagegen wehren, dann wird zweifellos ein
Strafantrag gestellt und auch verfolgt werden. Im anderem
Fall wird man versuchen, und das hängt dann von den je-
weiligen Gerichten ab, wie sie die Rechtslage beurteilen:
Kann also auch eine Geldstrafe denkbar sein.
Entschädigungsloses Einziehen des Gerätes und gerichtliche
Verfolgung sind durchaus nicht alles an Ärger, was jemandem
droht, der sich ein illegales Modem hat andrehen lassen:
Wenn ich also ne negative Auswirkung aufs Netz habe, was
kürzlich mit einer Endeinrichtung geschehen ist, daß also
in einer Vermittlungsstelle der Telekom Relais abgebrannt
sind oder ein ganzer Vermittlungsraum abgebrannt ist, das
ist sicher nicht ein Fall, der an der Tagesordnung liegt,
dann ist natürlich der Fall mit gewissen Auswirkungen
verbunden und hat auch mehr Aufmerksamkeit bei der Ab-
handlung bei den Gerichten - mit Sicherheit.
Die schwarzen Modems sind mindestens so gut wie die legalen
Geräte, es geht nur um bürokratische Unterschiede ohne tech-
nische Bedeutung, verbreiten manche Mailboxer - doch das
stimmt so nicht. Zugelassene Modems enthalten Schutzeinrich-
tungen und Sicherheitsvorkehrungen, die man an vielen Billig-
Modems aus dem Ausland vergeblich sucht.
Im Landeskriminalamt Baden-Württemberg haben die Spezialisten
für Computer-Delikte zwar Wichtigeres zu tun, als Betreiber
schwarzer Modems zu suchen, doch wenn ihnen zufällig ein sol-
ches Gerät in die Hände fällt, dann haben die Verantwortli-
chen gleichwohl Anlaß, den Tag zu verwünschen, an dem sie
sich das Modem andrehen ließen. Hauptkommissar Helmut Stimm:
Seitdem ich in diesem Dezernat tätig bin, haben wir erst
ein einziges mal einen Fall mit einem illegalen Modem ge-
habt. Und in diesem Fall lag auch keine Anzeige vor, son-
dern das Ermittlungsverfahren richtete sich gegen einen
anderen Umstand. Und das Modem wurde als Zufallsfund in
der Wohnung aufgefunden. Das Modem wurde von uns abge-
baut, der Post zugesandt zur Begutachtung, und dieses
Gutachten wird an die Ermittlungsdienststelle weiterge-
leitet und von dort aus ins Gerichtsverfahren eingeführt.
Aufgefallen als Anbieter Schwarzer Modems sind in den letzten
Wochen vor allem ein Spezial-Unternehmen in Köln, ein Händler
für Computer- und Bürobedarf in Pfullingen und Elektronik-
Shops in baden-württembergischen Universitätsstädten. Weil
sie ihre Offerten allesamt mit dem Hinweis versehen haben,
der Betrieb des Gerätes sei strafbar, können ihnen die Behör-
den nicht an den Karren fahren. Der Dumme ist allein der Käu-
fer, wenn die Sache auffliegt. Für den LKA-Kriminalisten Hel-
mut Stimm Anlaß zu einer unmißverständlichen Warnung:
Es muß sich jeder darüber im Klaren sein, auf was er sich
einläßt, wenn er sich ein illegales Gerät kauft, welche
Folgen es haben kann, es sind ja nicht nur strafrechtli-
che Folgen eventuell, sondern es ja möglicherweise auch
zivilrechtliche Folgen. Die zivilrechtlichen Folgen wer-
den in vielen Fällen da einfach unterschätzt. Strafrecht-
lich, ein Verstoß gegen das Fernmelde-Anlagen-Gesetz ist
ein Antragsdelikt, da wird niemand bei uns zu Gefängnis
verurteilt, aber zivilrechtlich können unter Umständen
sehr hohe Schadensersatzforderungen kommen.
Viele Vertreiber illegaler Modems verbreiten die Nachricht,
demnächst werde im Zuge der Europäischen Einigung das Be-
triebsverbot für solche Geräte ohnehin fallen, anderswo in
Europa zulässige Geräte dürften dann auch hier ans Netz. Mit
dieser Mitteilung sollen offensichtlich bei den Kunden Hemm-
schwellen abgebaut werden - so etwa nach dem Motto, warum
soll ich mir heute kein schwarzes Modem kaufen, wenn es dem-
nächst ohnehin legalisiert wird? Doch von einer solchen Libe-
ralisierung ist keine Rede, erklärt das Bundesamt für Post
und Telekommunikation ausdrücklich:
Man muß hier, und wir haben ein analoges Netz, davon aus-
gehen, daß ja auch die technischen Voraussetzungen, das
sind also grundsätzlich die Betreiber-Spannungen, ange-
fangen über den Signalisierungsaustausch, aufeinander ab-
gestimmt sind und auch eine Kompatibilität der Geräte zu-
lassen. Und diese Voraussetzungen sind nicht gegeben, so
daß zum 1.1.93, zumindest im analogen Netz, im Prinzip
keine wesentliche Änderung eintreten wird. Aber viel-
leicht noch mal zur Ihrer Frage, was eigentlich der Hin-
tergrund des Ganzen sein wird, der Unterschied zwischen zuge-
lassenen und nicht zugelassenen Modems: Es gibt jetzt zuge-
lassene Modems, die sogenannte "Zigeunerklasse", wie sie be-
zeichnet wird auf dem Markt, die etwa um die 300 DM liegt, und
es ist also eigentlich insofern jedem zu empfehlen, nicht
wegen 50 Mark hier, ein Gerät zu kaufen, das nicht zuge-
lassen ist, und das letztlich auch Auswirkungen haben kann
auf eine Straffälligkeit.
Wenige Stunden nach der Aufnahme dieses Statements war es,
was die Modem-Preise angeht, schon überholt. Heinz Willi Dah-
men von der Computer-Handelskette Vobis-AG:
Wir haben seit neuestem ein Modem, 2400 Baud vollduplex,
für 199 Mark. Und dieses Modem verkauft sich inzwischen
ganz hervorragend. Es ist also, glaube ich, der ideale
Einstieg für jemanden, der Daten-Fernübertragung machen
will. Dieser Preis ist, für ein postzugelassenes Modem
wohlgemerkt, bisher noch nicht erreicht.
Vor kurzer Zeit mußte man für ein zugelassenes Modem noch ein
Mehrfaches davon auf den Tisch legen. Als Folge dieses Preis-
sturzes erwarten Fachleute nun, daß schon bald viele Büro-,
Heim- und Hobby-Rechnern überall im Lande aufgerüstet werden
und auch die Zahl der Mailboxen in Baden-Württemberg rasch
weiter zunehmen wird.
Beschleunigt wird die Entwicklung dadurch, daß die Bundespost
ihre BTX-Super-Großcomputer in Ulm den privaten Betreibern
kleiner Computer mit Billig-Modem öffnete. Als Gast können
sie, so gut wie gratis, auf diesem Weg interessante Angebote
nutzen. An Kosten fallen nur die Telefon-Gebühren für die
Verbindung mit dem nächsten Einwählpunkt an. In den meisten
Großstädten geht das per Ortsgespräch. Datex-J, "J" wie "je-
dermann", heißt dieser neue Dienst. Und wer als voll einge-
tragener Nutzer alle Möglichkeiten unbegrenzt ausschöpfen
will, der ist für acht Mark im Monat voll dabei.
Mit Beginn des nächsten Jahres wird das Gratis-Angebot für
Gäste leider etwas gestutzt, und für eingetragene Nutzer kom-
men dann noch ein paar Pfennig pro Minute als zusätzliche Be-
nutzungsgebühr hinzu, aber das ändert nichts daran, daß Da-
tex-J einen kräftigen Wachstums-Schub für die Computer-Kommu-
nikation durch jedermann bringen wird.
Neben Datex-J entstehen in Baden-Württemberg in diesen Wochen
weitere Computer-Netze neuen Typs. Berufsschulzentren im
Kraichgau, Gymnasien in der Kurpfalz und eine Realschule im
Norden der Region Stuttgart haben begonnen, die Privatcompu-
ter von Teilnehmern ihrer Informatik-Arbeitsgemeinschaften zu
vernetzen.
Das Landesinstitut für Erziehung und Unterricht in Stuttgart
kann über Datex-J und das Ulmer BTX-System direkt Materialien
zur Unterrichtsgestaltung in Schulcomputer oder häusliche
Lehrer-Rechner einspielen. Auch das Statistische Landesamt in
Stuttgart ist bei Datex-J mit von der Partie und übermittelt
auf Wunsch Wahlergebnisse oder regionale Strukturdaten direkt
in Schüler-Computer: Innovation und Wachstum allenthalben.
Die größten Zuwachsraten erwartet der Datenbank-Spezialist
Stefan Wicht jedoch bei den Foren der klassischen Allzweck-
Mailboxen. Daß sich jedermann ohne zwischengeschaltete Zu-
gangskontrolle direkt durch das Absenden von Netzwerk-Bot-
schaften an eine große Öffentlichkeit wenden kann, wird immer
mehr Menschen faszinieren und aktivieren, lautet seine Pro-
gnose.
Bevor man in der Zeitung drin vorkommt oder im Fernsehen,
muß man viele Wege gehen oder es muß schon was sehr Auf-
regendes passiert sein. Hier hat man die Möglichkeit, auf
einem ganz niedrigen Level, mit ner ganz niedrigen Eingangs-
schwelle, das, was einen bewegt - Meinung, Fakten oder Infor-
mation - zu verbreiten. Und auf das zu reagieren, was andere
anbieten. Das ist sicherlich ne Sache, wo ich mir vorstellen
kann, das wird noch viele Menschen und Bürger hier bei uns
interessieren.
Bereits jetzt wispern und summen tagtäglich und vor allem
nachts tausende von Computern über Telefonleitungen im Lande
miteinander. Bald werden es zehntausende sein.
Telekommunikations-Sound mit Hall; abblenden.
[( c) 1992 by HG Joepgen und Südwestfunk Baden-Baden. ]